Der notwendige Rehbock

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Berliner Volkszeitung” vom 2.11.1904,
in: „Indiana Tribüne” vom 17.02.1905


Die Jagd war zu Ende. Die Treiber hatten in seltsam vergnügter Stimmung die Strecke zusammengetragen, Die Offiziere des Füslierbataillons trafen allmählich auf dem Rendezvousplatze zusammen, wo Förster Ringelberg brummend und kopfschüttelnd die Bescheerung betrachtete.

Der alte Ringelberg war der Hüter des angrenzenden Stadtwaldes. Freundlicherweise hatte er auch die Beaufsichtigung des Reviers der Garnison übernommen, und seit vielen Jahren fungirte er nach Gewohnheitsrecht als Manager der Offiziersjagden. Kundige Leute behaupteten allerdings, daß das nicht nur Freundlichkeit, sondern auch Berechnung war. Förster Ringelberg wachte mit Argusaugen über seiner städtischen Jagd — und das konnte er am besten, wenn er auch die benachbarten Reviere beaufsichtigte. Am Stammtische hatte er einmal mit listigem Augenzwinkern erklärt: „In der Liebe und beim Weidwerk ist keinem Menschen zu trauen. Auch nicht den Herren Offiziers.”

Andererseits empfand er es doch wieder als eine ihm persönlich angethane Unbill, wenn das Resultat einer der Jagden — welche die Offiziere des Bataillons mehr aus Langeweile als aus Freude am edlen Gejaid [sic! D.Hrsgb.] veranstalteten — hinter seinen berechtigten Erwartungen zurückblieb.

Die Hände in seinem alten Fuchsmuff vergraben, die kurze Pfeife im linken Mundwinkel, stieß er dichte Wolken durch den über die Lippen hänghenden, weiß-gelb-braun gefleckten Schnauzbart und beschaute mit grimmigem Humor, was die Treiber zusammengetragen.

Erst als die zehn Jagdteilnehmer, mit dem Major von Kozlowski an der Spitze, sich sämmtlich angefunden hatten, nahm er die Pfeife aus dem Munde und erstattete dem Bataillonscommandeur den Streckenrapport — wie immer in einer Form, die das Entzücken der jüngeren Leutnants bildete.

Förster Ringelberg strich mit dem Mundstück seiner Pfeife den bunten Schnurrbart zurecht, räusperte sich, spie energisch aus und sprach also:

„Herr Major, meine Herren — es war diesmal wieder unter allem Luder. Es sind von zehn Mann, den Herrn Major mit einbegriffen, zur Strecke gebracht worden: neun Hasen, wovon fünf blos Karnickel sind. Des weiteren ein lahmer Fuchs, der nämliche, welchen Sie bereits auf der vorigen Jagd erlegt haben, der aber nur scheintodt und von der Strecke weg wieder ausgekniffen war. Ich habe mich überzeugt, daß der Rothe diesmal wirklich geblieben ist — aber wohl weniger von Ihren Schroten als aus Lebensüberdruß. Des weiteren zwei Eichkatzen, zwei Krähen und — i du Donnerschock — — hier fehlt doch noch etwas! Wo ist der Schorsch Lindewald, den der Herr Major mit 6 Schroten am Spiegel getroffen hat?”

„Schorsch ist bei'n Fisikus!” lautete die Antwort aus dem Kreise der Treiber.

„Ach so — na, denn konnte er hier nicht zugelegt werden, meine Herren. Sie müssen sich also den Schorsch Lindewald mit den 6 Schroten im Spiegel neben den beiden Krähen denken. Aber alles was recht ist, meine Herren — die Strecke wäre doch vielleicht etwas weniger dürftig ausgefallen, wenn die Kälber und die Ziegen um diese Zeit nicht auf Stallfütterung angewiesen wären. Damit wollen wir uns trösten, und in diesem Sinne Weidmannsheil!”

Es war gut, daß Förster Ringelberg hier Schluß machte. Die jüngeren Herren konnten ihr Vergnügen kaum noch bändigen. Der kleine Graf Verchow hielt eine Buche umklammert und vergoß Thränen der Wonne.

Der sonst recht joviale Major von Kozlowski bemerkte das unliebsam. Vorgesetzte sehen es nie gern, wenn sie in Gegenwart ihrer Nachgeordneten angeulkt werden und diese darüber Freude äußern. Der Herr Major war überhaupt nicht recht in Stimmung heute. Und das aus zwei Gründen. Einmal lag ihm der angeschossene „Schorsch” Lindewald auf der Seele. Er sah ihn noch umherhüpfen, mit beiden Händen am „Spiegel” und unter einem Schmerzgeheul, als wenn seine Erziehungsfläche nun für immerdar ihren Funktionen entzogen wäre. Die Sache war, wie albald festgestellt wurde, nicht schlimm; aber Schorsch Lindewald war dafür bekannt, daß er solche Glücksfälle gehörig auszunutzen wußte — unter 30 Mark pro Schrotkorn that er's nicht. Nun, darüber war schließlich noch hinwegzukommen — wenn nur ein einziges Stück Rehwild geschossen worden wäre!

Der Major hatte seinem in der Residenz wohnhaften Schwager und hohen Vorgesetzten, dem General Siemroth, einen Rehbock versprochen. Ganz fest. So fest, daß der Herr General geschrieben hatte, er verlasse sich absolut darauf. Binnen sechs Tagen finde eine größere Gesellschaft bei ihm statt, an der auch ein Divisionär und der commandirende General theilnähmen. Es würde ihm bei dieser Gelegenheit eine Freude sein, darau hinweisen zu können, daß der Bock von dem Offiziercorps des Füsilierbataillons-Regiments [sic! D.Hrsgb.] Karl Adalbert geschossen worden sei.

Das hatte der General geschrieben. Und was er nicht geschrieben, das hatte der Major zutreffend sich wie folgt ergänzt: „Schickst Du mir aber den Rehbock nicht, so wird mich meine verwandtschaftliche Liebe nicht abhalten, Dir sehr grob zu kommen. Es hat dann entweder am guten Willen oder an Deiner und Deiner Offiziere Schießferigkeit gefehlt. Grund genug, daß ich alsbald herüberkomme und Euch die Karbonade scheuere.”

Aus dieser Combination und der damit zusammenhängenden Stimmung heraus winkte der Major sich den kleinen Verchow heran, der bei Besichtigung der Strecke den Förster zu einer Fortsetzung seiner Kritik anzustacheln versucht hatte.

„Lieber Graf, Ihre Freude an den herben Betrachtungen unseres alten Freundes ist eine so große und ungetrübte, daß ich nur annehmen kann, Sie persönlich fühlten sich dadurch nicht im geringsten betroffen. Das ist aber eine arge Selbsttäuschung. Sie schießen sehr schlecht, lieber Graf. Und nicht nur hier, sondern überhaupt —”

„Herr Major, wenn ich gehorsamst bemerken darf —”

„Schon gut, ich weiß, was Sie bemerken wollen. Sie wollen mir einwenden, daß Sie neulich auf dem Schießstande als der beste abgeschnitten haben. Vielleicht auch — ich glaube das vorhin gehört zu haben — daß Sie die vier Hasen allein erlegt haben. Das alles als richtig vorausgesetzt, möchte ich Sie doch auf die merkwürdigen Spiele des Zufalls verweisen, an denen das Leben so reich ist. Zeigen Sie mir mal in einem besonderen Falle, was Sie leisten können.”

Der kleine Verchow wüthete innerlich. Das ihm, dem notorisch besten Schützen des Bataillons nicht nur, sondern des ganzen Regiments! Es war, um aus der Jacke zu gehen. Aber er bezwang sich natürlich. Wenn der Major ihm die Durchlöcherung des Schorsch Lindewaldschen Hosenbodens in die Schuhe geschoben hätte, er hätte sich auch bezwingen müssen. Also erwiderte er, etwas gepreßt zwar, aber in correkter Haltung:

„Ich bin jederzeit bereit, Herr Major!”

„Schön. Dann will ich Ihnen sofort einen Vorschlag machen. Schießen Sie hier auf unserer Jagd binnen vierundzwanzig Stunden einen starken Bock.”

Das ist unmöglich, Herr Major. Binnen vierundzwanzig Stunden wenigstens. Das Wild ist vergrämt durch die heutige Jagd. Außerdem hält Herr Ringelberg den Wechsel von der Stadtforst her sehr scharf im Auge. Wenn mir der Herr Major jedoch drei Tage Urlaub geben wollen, so würde ich mich verpflichten, in dieser Zeit einen Bock zu erlegen.”

Major von Kozlowski rechnete. In sechs Tagen war die Gesellschaft bei dem Schwager-General. Blieben immer noch drei Tage. Das war dann allerdings der letzte Termin.

„Sie verpflichten sich dazu?”

„Zu Befehl, Herr Major!”

„Bon. Der Urlaub ist Ihnen bewilligt. Geben Sie mir eventuell sofort Nachricht. Ich danke Ihnen.”

Wenn Graf Verchow vorhin innerlich gewüthet, so rieb der Major sich jetzt innerlich die Hände. Er hatte gar nichts anderes gewollt, als den Ehrgeiz seines besten Schützen anzustacheln. Wenn der Kleine den Bock nicht schoß, so blieb er überhaupt ungeschossen, und das umsomehr, als von Seiten Ringelbergs keine Hilfe zu erwarten war. Der Förster hielt seine Stadtforst um jedes Stück Edelwild geschädigt, das auf dem Pachtgelände der Garnison angetroffen wurde. Und nun gar den Finger danach krumm machen! Das war ganz ausgeschlossen.

Der Major sah sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht.

Der dritte Tag war noch nicht zu Ende, als Graf Verchow ihm den frischen, schädelechten Hauptschmuck eines prächtigen Sechserbockes übersandte. Gleich darauf trat der Leutnant selbst an und wurde von seinem Bataillonscommandeur auf das freundlichste — nein, das ist nicht genug gesagt — auf das strahlendste empfangen.

„Alle Achtung, mein lieber Graf! Ich gratulire Ihnen und uns zu dieser Leistung — denn ich weiß sehr wohl, daß es seine Schwierigkeiten gehabt hat, auf unserem Revier einen solchen Burschen anzusprechen. Ich bin vollkommen bekehrt und werde nicht verfehlen, geeigneten Ortes auf Ihre Tüchtigkeit als Schütze hinzuweisen. Haben Sie nur die Liebenswürdigkeit, das Wild sofort hierher schaffen und bei mir abliefern zu lassen.”

Der geschmeichelte Ausdruck in dem Antlitze des kleinen Leutnants wich und verwandelte sich in einen verdutzten.

„Herr Major,” erwiderte er zögernd, „das ist leider nicht mehr möglich. Wenn der Herr Major mir nur mit einer Silbe angedeutet hätten, daß Sie selbst auf den Bock reflektirten, dann —”

„Dann —” hauchte der Bataillonscommandeur entgeistert.

„Dann hätte ich ihn nicht zu Gunsten unserer Jagdkasse erstanden und heute Mittag nach Hause geschickt . . .”

— — —